
Unsichtbar
Schmerztag, oder eigentlich: Schmerzwoche. Verdammte Scheiße. Es fühlt sich an, als ob wieder und wieder ein Messer in meinen Hinterkopf gerammt wird. Jeder Stich schießt durch den Kopf, strahlt bis hinter das rechte Auge und hinein in die Stirn. Gleichzeitig das Gefühl, dass mein Kopf platzen könnte, als würde er aufgepumpt. Und als wiege er etwa 50 Kilo. Heute ist Tag fünf.
Ich stehe vom Bett auf, ganz langsam, ziehe mich an, bewege vorsichtig den Kopf nach rechts und links. Ich versuche herauszufinden, ob mein Körper nach Tagen im Bett heute bereiter ist für ein kleines bisschen Bewegung.
Kopf nach rechts: stechender Schmerz. Kopf nach links: stechender Schmerz. Im Spiegel schaut mir ein Gespenst entgegen.
Ich bin unruhig, ärgere mich. In zwei Stunden fängt die Fortbildung an, ich habe schon drei Mal gefehlt. Fehle ich zu oft, bekomme ich keinen Abschluss. Drei Stunden auf einem harten Stuhl, geht das oder geht es nicht? Ich versuche in mich hinein zu hören.
Die Vernunft sagt: Bleib zu Hause! Das Gewissen sagt: Geh hin!
Das Gewissen siegt.
Ich schleiche durch das Treppenhaus in den Seminarraum. Trotz der sommerlichen Temperaturen habe ich mir ein Tuch um den Hals umgebunden, versuche die Muskeln zu wärmen und den Kopf nicht zu oft oder zu schnell zu drehen. Mein Gangbild gleicht vermutlich dem einer Achtzigjährigen.
Der Raum ist noch recht leer. Ich suche mir einen Platz mit geradem Blick auf den Dozenten, damit ich den Nacken nicht verdrehe. Über der Tür hängt eine Uhr. Ich denke: In drei Stunden kann ich endlich wieder zurück in mein Bett. Den Kopf ablegen, die Muskeln entspannen, im Dämmerschlaf den Schmerz fast vergessen.
Im Flur kommt Leben auf. Eine Teilnehmerin wird von den anderen umringt. Ich bin zu kraftlos, um aufzustehen und nachzusehen, was los ist. Die beiden anderen Frauen, die auch schon im Raum saßen, sind aufgestanden, um den Rest der Gruppe zu begrüßen und sicher auch, um zu sehen, was auf dem Flur los ist. Ich sitze als einzige auf meinem Platz und unterhalte mich mit niemandem.
Blöd finde ich das schon, aber ändern kann ich es heute nicht.
Der Pulk von draußen kommt in den Seminarraum, die anderen verteilen sich auf freie Plätze. Jetzt sehe ich, was das allgemeine Interesse geweckt hat: Nina humpelt langsam mit einem Gehgips herein. Kaum hat sie neben mir Platz genommen, kommt der Dozent auf sie zu: „Ohje, was hast du denn gemacht?“ Sie erzählt von dem kleinen Unfall den sie hatte und davon, dass sie eine Absplitterung an einem Knochen hat. Der Dozent nickt: „Kannst du denn hier gut sitzen? Wenn du etwas ändern musst – sag einfach Bescheid“. Nina winkt ab. Noch ein paar Minuten bis zum Unterrichtsbeginn, nach und nach trudeln alle ein. Einer nach dem anderen kommt durch die Tür, entdeckt Ninas Schuh und kommt direkt auf sie zu. Im Stillen zähle ich mit: Acht Mal hat sie die Geschichte ihres Unfalls inzwischen erzählt, zuletzt nicht mehr ganz so ausführlich. Alles gut, halb so schlimm, ein kleiner Fahrradunfall, der andere Fahrer hatte Schuld, eine kleine Absplitterung.
Ich fühle mich unsichtbar. Ein Vergleich ist gemein aber ich bin sicher, dass ich heute die größeren Probleme haben werde, dem Unterricht zu folgen, und dass es mir weitaus schwerer fällt, hier auch nur aufrecht zu sitzen als Nina mit ihrem orthopädischen Schuh. Ein guter Beobachter sieht vielleicht, dass ich mich ungewöhnlich bewege und doch würde keiner vermuten, was dahintersteckt. Ich bin niemand, der unbedingt die Aufmerksamkeit will, also würde ich auch nie von mir aus berichten, wie es mir gerade geht.
Von einigen, die auf Nina direkt zu gehen und damit auch neben mir stehen bleiben, werde ich begrüßt, ich lächle zurück, nicke, dann steht wieder der gebrochene Fuß im Mittelpunkt. Sandra schiebt einen Stuhl vor uns, damit Nina ihren Fuß darauf ablegen kann. Nina winkt ab, nein, wirklich, nicht nötig, erklärt sie, während sie den Fuß auf der Sitzfläche ablegt. Ich möchte mich unbedingt auf den Boden legen, Ninas Stuhl zu Füßen, und die Augen schließen. Jetzt sofort. Mit aller Kraft gehe ich dagegen an.
Der Dozent beginnt mit seinem Vortrag. Langsam drehe ich mich zu meinem Rucksack und fingere meinen Notizblock heraus. „Ohje, hast du es im Nacken?“ Nina sieht mich von der Seite aus an. „Äh, ja, lange Geschichte…ein Bandscheibenvorfall.“ Zumindest ein Teil der Wahrheit, um zu verstehen zu geben, dass ich nicht nur falsch gelegen oder Zugluft abbekommen habe. Der Dozent redet, wir flüstern wie in der Schule. Selbst wenn ich wollte, für eine längere Erklärung ist keine Zeit. „Du Arme! Das kenne ich, ich hatte auch mal einen.“
Ja, sicher, sie kennt das. Ich nicke. Ihr mitleidiger Blick fühlt sich an wie Hohn. Sie hat mich gesehen. Und doch fühle ich mich komplett unsichtbar.
Drei Stunden, dann habe ich es geschafft. Tick – In diesem Moment springt der Minutenzeiger federnd einen Strich weiter.

