Alltag mit Schmerz

Fußboden

Ich liege weinend mitten auf dem Küchenboden.

Ich weiß nicht mehr wie ich hier hingekommen bin, ich weiß nicht, wie ich es wieder aus dieser Position herausschaffen soll.
Weinend ist eigentlich eine Untertreibung, ich heule so sehr, dass ich keine Luft mehr bekomme und es mir schwerfällt, mich zu beruhigen.

Ich kann mich nicht bewegen. Ich kann nicht aufstehen, ich kann nicht hier liegenbleiben, ich kann nicht atmen. Ich halte das nicht aus. Ich krümme mich zusammen und bin das sinnbildliche Häufchen Elend in Person. Der Schmerz drängt sich mit Gewalt in den Vordergrund, er ist das einzig Existierende, mit Worten nicht zu beschreiben. Er pocht und hämmert und greift meinen Körper und meinen Verstand an, nimmt mich auseinander, bis ich in tausend kleine Stücke zerfalle. Er ist eine 9,2 auf der Schmerzskala, bis zur 10, dem absolut schlimmsten vorstellbaren Schmerz, ist es nicht mehr weit.
Er schnürt mir die Luft ab, er erstickt jede Vernunft. Im Gepäck hat er Verwirrung und Angst, die nur darauf warten, in einem schwachen Moment zuzuschlagen und mich vollends zu vernichten.

Ich kann nicht denken, kann nichts entscheiden. Ich kann nicht einschätzen, ob der Schmerz von allein nachlassen wird, und wenn ja wann. Ich halte es nicht aus, einfach nur darauf zu warten, dass er leiser wird.
Ich weiß nicht, ob ich einen Krankenwagen rufen, oder ob ich einfach abwarten soll. Die Vorstellung von zwei fremden Menschen in meiner Wohnung aufgesammelt und in ein Krankenhaus gebracht zu werden ist mir zuwider. Die Vorstellung hier liegen zu bleiben auch.

Es soll aufhören! Es soll einfach nur aufhören.

Ich will, dass es aufhört. Ich will, dass mich jemand findet und aufsammelt, aber gleichzeitig bin ich nicht in der Lage, mir Hilfe zu holen.
Ich will in mein Bett. Es steht nicht einmal zehn Meter entfernt im Nebenraum. Ich möchte mich darin verkriechen, weiß aber nicht, wie ich in mein Bett kommen soll, denn wenn ich mich bewege, dann überrollt mich der Schmerz mit der größten nur vorstellbaren Wucht und ich gehe unter.
Mir ist schlecht, hundeelend.
Ich glaube, ich muss mich gleich übergeben. Mein Herz rast, der Puls ist vom Schluchzen hochgetrieben. Ich angle mir die Decke, die zusammengefaltet auf einem Küchenstuhl liegt, ziehe sie an einem Zipfel zu mir herunter, breite sie mit möglichst wenigen und kleinen Bewegungen ganz vorsichtig über mir aus, rolle mich darunter noch kleiner zusammen und wimmere.
Ich kann nicht mehr.
Es soll aufhören.
Ich weiß nicht was ich tun soll. Selbst wenn ich es wüsste, könnte ich es nicht tun. Mein Gesicht ist tränennass, meine Augen völlig verquollen. Mein Shirt verschwitzt, meine Haare durcheinander. Ich friere, weil die Fliesen so kalt sind und ich schwitze, weil mein Körper nicht weiß, wie er mit diesem Stress umgehen soll. Gleichzeitig macht sich eine Gänsehaut auf meinem ganzen Körper breit. Es tut so weh. Mein Kopf fühlt sich an, als würde er aufgepumpt werden und jeden Moment platzen, der Druck ist unerträglich. Reißende Schmerzen jagen durch den Nacken und den Kopf. Gleichzeitig fühlt sich der Kopf zweigeteilt an, die linke Seite brennt wie Feuer. Niemand ist da, der mir helfen könnte. Ich hasse es, allein zu wohnen. Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr.

Es kostet alle verbliebene Kraft mein Bewusstsein zu aktivieren und mich selbst daran zu erinnern, dass ich aus dieser Situation wieder rauskomme, wieder raus muss. Dass ich nicht immer hier auf dem Fußboden mitten in der Küche liegen bleiben kann. Ich erinnere mich an meine Atmung, versuche tief und lange ein und aus zu atmen, der Brustkorb hebt und senkt sich gleichmäßig. Das Weinen lässt nach. Ich rolle mich auf die Seite, dafür brauche ich mindestens eine Minute.
Mach mal eine solche Bewegung in einer Minute, es wird dir wie eine Stunde vorkommen.
Trotz der Langsamkeit ist es zu viel, die Bewegung tut trotzdem weh, heißer Schmerz sticht durch meine Glieder, reißt an meinem Kopf. Ich warte, bis die Schmerzwelle wieder abklingt. Ich richte mich auf, Wirbel für Wirbel, Muskel für Muskel, so langsam es geht. Mit den Fingerspitzen angle ich die kleine Pappschachtel, die auf dem Kühlschrank liegt, ein starkes Schmerzmittel. Eigentlich ist die letzte Einnahme noch nicht lange genug her. Ist mir egal. Ich zähle die Tropfen ab. Ich konzentriere mich auf die Atmung, versuche die Übelkeit zu ignorieren. Ich nehme die Tropfen ein, lehne mich in Zeitlupentempo mit dem Rücken an den Kühlschrank und schließe die Augen. Eine Sekunde später würge ich, springe auf, der Schmerz überkommt mich nach dieser heftigen Bewegung mit größter Gewalt, ich versuche das Spülbecken zu erreichen und übergebe mich. Wässrige Magensäure landet zur Hälfte in der Spüle, zur Hälfte auf dem Boden. Ich hänge wie ein nasser Sack über der Arbeitsfläche, ich weine und fluche und kann nicht mehr. Das Schmerzmittel ist natürlich auch wieder draußen. Gut, dass ich heute kaum etwas gegessen habe.

Ich stöhne und richte mich auf. Dabei stoße ich an die Kaffeetasse von gestern und der Rest des Inhalts läuft den Schrank herunter, in die Besteckschublade und auf meine Zehen. Kotze, Kaffee, Tränen.
Die Uhr tickt, im Treppenhaus sind Menschen, ich sitze in meiner dreckigen Küche und bin am Ende.

Ich habe keine Ahnung, wie viel Zeit vergeht, irgendwann rufe ich meine Mutter an: „Hol mich ab,“ bringe ich hervor, „es tut so weh.“ Mehr brauche ich nicht zu sagen.
Ich wische notdürftig den Boden, schmeiße das Handtuch gleich in den Mülleimer. 

Ich kann nicht mehr. Es soll aufhören. 

Kurze Zeit später sammelt meine Mutter mich auf und fährt mich in eine Notfallpraxis. Es ist Freitagnachmittag, die Ärzte haben geschlossen, ins Krankenhaus will ich nicht. Obwohl sie sich bemüht sehr sanft zu fahren, leide ich bei jeder Bremsung. Es fühlt sich an, als wirken tonnenschwere Kräfte auf meinen Körper.
In der Praxis ist es voll, wir müssen warten. Die Luft in dem kleinen stickigen Wartezimmer ist zum Schneiden. Überall husten und röcheln Menschen. Ich würde gerne draußen vor der Tür warten, an der frischen Luft auf dem Treppenabsatz. Aber das würde bedeuten, dass ich wieder aufstehen müsste und dafür habe ich keine Kraft. Ich versuche den ziemlich krank aussehenden Mann neben mir zu ignorieren und nicht zu tief einzuatmen. Als könnte ich damit verhindern, Viren und Bakterien abzubekommen. Die Warterei kommt mir endlos vor. Zusammengesackt den Kopf in den Händen rattere ich innerlich mein Mantra runter: „Gleich wird es wieder besser, durchhalten. Gleich wird es wieder besser, du schaffst das.“ Wie gern würde ich mich hinlegen, einfach auf den ekligen, blau gesprenkelten Linoleumboden. Nur liegen und nicht mehr bewegen, ganz egal welche Rückstände von Körperflüssigkeiten möglicherweise hier verteilt sind.

Von einer Arzthelferin werde ich in einen Raum geführt. Ich kann auf der Liege warten. Keine Ahnung wie lange es dauert, aber irgendwann kommt tatsächlich eine Ärztin. Sie ist im Stress, es scheint sie wenig zu interessieren was ich zu sagen habe. Es kommt mir sogar so vor, als ob sie mich nicht ernst nimmt, der Meinung ist, dass ich noch nicht krank genug bin, um das Recht zu haben, in eine Notfallpraxis zu fahren. Aber sie behandelt mich und das ist alles, was ich will. Über einen Tropf bekomme ich etwas gegen Übelkeit, damit das Schmerzmittel dieses Mal im Bauch bleibt. Als es zu wirken beginnt, werde ich nach Hause geschickt.

Alles ist dumpf, der Schmerz pocht in meinem Kopf. Ich kann mich kaum auf den Beinen halten, meine Energie ist verbraucht. Mir ist alles egal, ich nehme kaum etwas wirklich wahr. Meine Mutter steckt mich zu Hause ins Bett. Sie deckt mich zu und macht mir eine Wärmflasche.
Ich bin dreißig Jahre alt und ich liege in meinem alten Kinderzimmer im Bett und werde von meiner Mutter umsorgt. Auch das ist mir egal, ich lasse es einfach geschehen.
Nein, eigentlich ist es mir nicht egal. Ich bin sogar sehr, sehr dankbar dafür. Ich schließe die Augen, höre Geklapper aus der Küche, im Halbschlaf entspanne ich.
Es hört wieder auf. Irgendwann.

Leave a Reply

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert